Freitag, 7. September 2012

HCMC - potentiell ansteckend

HCMC ist keine tückische Krankheit, aber trotzdem ansteckend, weil es so unglaublich viel zu sehen gibt. Kirchen, Museen, Geschäfte, klein und groß, elegant und teuer oder chaotisch und bunt. Wolkenkratzer, Hochhäuser und kleine Gassen, Häuser, deren Adressen aus drei Hausnummern bestehen. Ein bisschen gefährlich ist es auch, zumindest wenn man auf die Idee kommt zu Stoßzeiten eine Straße überqueren zu wollen. Eine Schnecke, stetig kriechend, käme heil auf die andere Straßenseite - ein Eichhörnchen, abwechselnd flink hüpfend und abrupt stoppend, käme keine drei Meter weit. Links und rechts, vorne und hinten hupen Autos, schieben, drängeln, davor ein Meer von Mopedfahrern, ebenfalls hupend. Alles im Fluss, sehr sehr langsam kriechend, aber niemals stehenbleibend. Wie überquert man hier eine Straße? Wie eine Schnecke kriecht man langsam durch das Meer, immer kontinuierlich, einschätzbar für alle Zwei-, Drei- und Vierradfahrer, darauf vertrauend, dass sie an einem Zusammenstoß genauso wenig interessiert sind wie man selber. Augen zu und durch. Und tatsächlich - landet man heil auf der anderen Straßenseite.

Ho-Chi-Minh-City, so der ausgeschriebene Name von HCMC, wird von allen nur Saigon genannt. Saigon brummt und summt und floriert und einer solchen Stadt kann nicht von einem Tag auf den anderen ein neuer Name aufgedrückt werden. Eine Weltstadt mit 7 Millionen Einwohnern führt ihr eigenes Leben. Mit großen Augen liefen wir durch die Gegend, bestaunten das von Gustave Eiffel entworfene Postamt und die Kathedrale Notre Dame. Très francais, diese Stadt! Ein Rathaus, pompöser denn je, und natürlich mit einer Statue von Onkel Ho im Park davor. Ein Wiedervereinigungspalast für ein ehemals geteiltes Land in sozialistischer Optik. Und ein Museum, das den ganzen Schrecken eines Krieges in Fotos zusammenfasst.





Das "War Remnants Museum" war uns bereits nach unseren ersten zwei Tagen in Vietnam von zwei englischen Backpackern empfohlen worden. "Schrecklich schön", sagte Alison damals, "aber nichts für schwache Nerven!"
Die Fotos geben ihr recht. Verkohlten Leichen werden Namen gegeben, missgebildete Föten ausgestellt, Fotos von behinderten Kindern mit Familien- und Leidensgeschichten abgedruckt. Ein Journalist hielt die Erschießung von zwei Jungen in einem Reisfeld auf, um ein Foto zu machen. Als er sich umdrehte, hörte er zwei Schüsse. Die letzten Fotografien von Kriegsreportern, bevor ihr eigener Helikopter abstürzte, sie tödlich getroffen, ermordet, verschleppt oder eingekerkert wurden. Oder einfach verschwanden. Fotos von entlaubten Mangrovenwäldern, mit Kindern, die auf dem verseuchten Boden spielen. Fotos von den gleichen Kindern, 25 Jahre später, nur Haut und Knochen, mit seltsam verbogenen Gliedmaßen, die typischen Symptome. Ein Mann, dessen Nase von einem Tumor auf Elefantenrüsselgröße aufgebläht ist. Ein Baby ohne Augäpfel. Der bodenlos verzweifelte Blick eines dreck- und blutverschmierten Soldaten.
Mir dämmert, dass die steppenartigen Gefilde mal tiefer Dschungel waren, die wir auf der Zugfahrt gesehen haben.

Etwas mitgenommen waren wir nach dieser Zeitreise, die in ihrer Schrecklichkeit so schön war, dass wir zwei Tage brauchten, um uns durch das ganze Museum zu kämpfen. Dennoch hatte Saigon auch sehr schöne und fröhliche Seiten. Ein Markthaus mit wahnsinnig engen Gängen und wahnsinnig überfrachteten Ständen, in denen man sich darum riss, Nico die schönsten und günstigsten Unterhosen Vietnams aufzuquatschen. Ein Restaurant mit sterne-würdigem Essen in einem kerzenerleuchteten stillen Hinterhof. Ein Luxus-Restaurant auf einem Wolkenkratzer, das uns auch ohne Essenfassen auf ihre Terrasse ließ um die Aussicht genießen zu können. Eine ganze Straße voller niedlicher Antiquitätenläden, die zu Nicos Entzücken auch Edelsteine verkaufen, oder zumindest das, was sie dafür halten.




Und dann heißt es schon wieder Sachen packen. Diesmal endgültig. Schon vorbei war die Reise, für die wir am Anfang gefühlt doch soviel Zeit hatten. Aber immerhin: Wir waren die komplette Küste Vietnams von Nord nach Süd im Zug hinuntergefahren und haben damit bis auf eine Ausnahme alle Zugstrecken Vietnams bereist. Einiges sehr touristisches war auf unserer Route, aber auch vieles, was nicht zu jeder Standard-Vietnamreise gehört. Was ich allerdings trotz ausgiebiger Recherche noch nicht ergründen konnte, ist die Sache mit dem Mundschutz. Warum tragen vietnamesische Frauen bloß ständig einen Stoff-Mundschutz? Um sich vor Staub und Dreck zu schützen, so war meine Vermutung. Dummerweise werden die Stoffdinger auch auf dem platten Land, fernab aller Feinstaubquellen fleißig getragen, und nicht nur im dichten Straßenverkehr von Hanoi und Saigon. Ein australischer Hostelbesitzer verriet mir, das sei um sich vor der Sonne zu schützen. Unpraktischerweise ist es hier schließlich "in", möglichst weiß zu sein, während es bei uns im sonnenarmen Nordeuropa als gutaussehend gilt, wenn die Haut möglichst braungebrannt ist. Doch auch in Innenräumen und Zugabteilen wird gerne und häufig auf die Maske zurückgegriffen, sogar in Nachtzügen, wo nun wirklich keine Gefahr besteht, übermäßig braun zu werden. Oder liegt es am Geruch?
Zu meiner Fassungslosigkeit griff eine Vietnamesin, die uns in einem Zug gegenüber saß, in Ermangelung einer Stoffmaske auf das erste zurück, was sie in ihrer Tasche fand: Brot. So saß sie da mit ihrem Stück Baguette, das sie fleißig vor ihre Nase hielt und ich schnüffelte vorsichtig an mir und Nico, ob wir vielleicht Schuld an diesem merkwürdigen Verhalten sein könnten. Fehlanzeige. Später rollte sie sich für ein Nickerchen auf zwei Sitzen zusammen, weiter mit dem Brot vor der Nase. Im Schlaf fiel es ein paar Mal herunter, wurde aber jeweils gleich wieder aufgesammelt, sauber abgeputzt und auf seinen Nasenplatz zurückgesetzt.
Kulturunterschiede sind etwas sehr merkwürdiges...

Nun bin ich also wieder zuhause, zusammen mit einem blöden Schnupfen, den ich der Kombination aus frostiger Klimaanlage und eisigen 8 Stunden Aufenthalt am arktischen Dubaier Flughafen zu verdanken habe. Ein bisschen traurig, dass die Reise nicht länger sein konnte, aber auch froh, Familie und Freunde wiederzusehen. Glücklich, den Reis auch mal gegen Nudeln, Kartoffeln oder Brot eintauschen zu können und um viele schöne Erfahrungen und Erlebnisse reicher. Nur wenige Tage noch bis ich Deutschland wieder den Rücken kehren werde - diesmal aber für ein weniger weit entferntes Reiseziel, denn Zürich in der schönen Schweiz wird mein nächster Studienort.

Ich danke allen fleißigen Lesern für euer kontinuierliches Schmökern und hoffe euch auf der nächsten Reise auf diesem Blog zu neuen Abenteuern begrüßen zu können! Das Globuswandeln hat so schnell kein Ende... daher: Bis bald!